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47 Rechtstheorie 369 (2016)
Franz Kafka im Dialog mit Pierre Legendre Rechtserfahrung oder Fenster auf das Chaos

handle is hein.journals/recthori47 and id is 369 raw text is: RECHTSTHEORIE 47 (2016), 369-383 Duncker & Humblot, 12165 Berlin FRANZ KAFKA IM DIALOG MIT PIERRE LEGENDRE - RECHTSERFAHRUNG ODER FENSTER AUF DAS CHAOS Von Katrin Becker, Luxemburg Seit dem 9. November 2016 ist Trump der neue president elect der Vereinig- ten Staaten von Amerika. Und es scheint nicht tibertrieben, seine Wah1 als bisherigen H6hepunkt einer an Intensitdt und Geschwindigkeit immer star- ker zunehmenden Entwicklung zu bezeichnen, in der traditionelle Gewiss- heiten unserer Kultur in Frage gestellt, die Grundlagen der Demokratie durch populistische Bestrebungen geschwdcht und eine simplizistische Dekomple- xifizierung einer immer komplexer werdenden Welt vorangetrieben werden. In einer solchen Zeit obliegt es jedem Einzelnen, sich die Frage zu stellen, wie man einen Beitrag zur Stabilisierung unseres auf liberalen Werten beru- henden Systems leisten kann - eine Frage, die sich umso mehr an die Geistes- wissenschaften richtet, die den gesellschaftlichen Auftrag haben, einen theo- retischen Orientierungsrahmen zu schaffen, Denkanstl3e zu generieren, und dem Aufruf, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (,,sapere aude '), Aus- druck zu verleihen bzw. ihm selbst zu folgen. Ldsst sich also vor diesem Hintergrund tiberhaupt legitimiert eine Arbeit zur Relation von Recht und Literatur fortsetzen? Ist in den gegenwdrtigen Zeiten, in denen in der gesamten abendlhndischen Kultur nicht nur die Prd- missen fast sdmtlicher kultureller bzw. rechtlicher Theorien zunehmend in Frage gestellt, sondern auch die Grundfeste der Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung fundamentaler Werte und Grundrechte erschtittert werden, eine Untersuchung der Rechtserfahrung mit literarisch-kulturanthropologischen Ansdtzen m6glich? Ich glaube, dass diese Fragen mit Ja zu beantworten sind und dass es u. a. gerade mit Franz Kafka und Pierre Legendre m6glich ist, Einsichten zu erlan- gen in die aktuellen Geschehnisse: Zum einen mit Legendre, der mit seiner bisweilen apokalyptisch anmutenden Gegenwartskritik ein Szenario vor- zeichnet, dem sich der Weltenlauf gerade erschreckend stark anndhert; und sodann mit Kafka, der meines Erachtens eine Leseerfahrung initiiert, die nicht nur der momentanen Erfahrung sehr nahekommt, sondern auch vor dem Hintergrund eines bestimmten Rechts- und Literatur- bzw. Kulturver- stdndnisses wichtige Einsichten in die rezenten Verhdltnisse erm6glicht. Im Folgenden mbchte ich mich deshalb einer Zusammenschau der Denkan- sdtze Pierre Legendres mit dem literarischen Werk Franz Kafkas, genauer: seinem Roman Der Process, widmen, um eine Bestimmung der subjektiven RECHTSTHEORIE 47 (2016) 4

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