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2005 Juristische Rundschau 1 (2005)

handle is hein.journals/jrcerdau77 and id is 1 raw text is: Januar Heft 1/2005

Die Korrektur von Gehörverletzungen im Zivilprozess
Prof. Dr. Johann Braun, Passau

In seinem Plenarbeschluss vom 30. 4.2003 hat das BVerfG dem
Gesetzgeber aufgegeben, bis zum 31. 12.2004 eine Regelung zu
treffen, die dem Recht auf Gehör im Zivilprozess in verfassungs-
konformer Weise Rechnung trägt. Der Beitrag erörtert, welche
Lösung dabei aus zivilprozessualer Sicht den Vorzug verdient.
1. Zur Vorgeschichte
Seitdem die Grundrechtsnovelle vom 29. 1. 19691 die Verfas-
sungsbeschwerde wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtli-
ches Gehör im Grundgesetz verankert hat (Art. 93 I Nr. 4 a GG),
ist im Grunde klar, dass die zivilprozessualen Rechtsbehelfe,
welche die ZPO für die Korrektur von Gehörverletzungen vor-
sieht, den verfassungsrechtlichen Anforderungen nur unvoll-
kommen gerecht werden. Denn auch wenn Art. 19 IV GG nicht
den Rechtsweg gegen Rechtsverstöße der dritten Gewalt garan-
tiert2, ist es kein akzeptabler Zustand, dass ein Verstoß gegen ein
grundrechtsgleiches Recht wie das des Art. 103 I GG, das aus-
schließlich von Gerichten verletzt werden kann, z. T. nur auf dem
Umweg über eine Verfassungsbeschwerde korrigiert werden
kann. Diese Lage schreit vielmehr nach Abhilfe.
In der Zeit vor 1977 war der Handlungsbedarf freilich nicht ganz so
dringlich; denn bis dahin konnte gegen amtsgerichtliche Urteile, die im
sog. Schiedsurteilsverfahren erlassen worden waren, im Falle einer Nicht-
gewährung des rechtlichen Gehörs eine Nichtigkeitsklage gem. § 579 III
ZPO a. E erhoben werden. Der Aufhebung des Schiedsurteilsverfahrens
durch die Vereinfachungsnovelle von 1976 fiel dann aber auch die
Nichtigkeitsklage gem. § 579 III ZPO zum Opfer3. Als durch das Rechts-
pflege-Vereinfachungsgesetz von 19904 dem AG erneut die Befugnis
eingeräumt wurde, in geringwertigen Streitigkeiten sein Verfahren »nach
billigem Ermessen« zu bestimmen (§ 495 a ZPO), versäumte es der
Gesetzgeber, einen vergleichbaren Behelf einzuführen, obwohl das Pro-
blem mittlerweile eine verfassungsrechtliche Dimension angenommen
hatte.
Freilich war zwischenzeitlich das BVerfG als »Pannenhelfer«
eingesprungen und griff auf Verfassungsbeschwerde hin ein,
wenn das Recht auf Gehör verletzt war. Gelegenheit dazu ergab
sich nicht nur bei amtsgerichtlichen Urteilen unterhalb der
Berufungssumme, sondern auch in anderen Fällen, in denen
in der ZPO kein Rechtsbehelf vorgesehen war, mit dem ein
Gehörverstoß hätte korrigiert werden können. Das waren nicht
wenige; denn weitaus die meisten aller Verfassungsbeschwerden
gegen Gerichtsentscheidungen werden auf eine Verletzung des
Rechts auf Gehör gestützt. Die Folge dieser Beschwerdeflut war
eine Überlastung des BVerfG mit Bagatellsachen sowie mit An-
gelegenheiten, denen eine verfassungsrechtliche Bedeutung nicht
zukam, weil über den Gehörverstoß ernsthaft kein Zweifel sein
konnte.
Das BVerfG reagierte darauf auf doppelte Weise: einmal so,
dass es derartige Verfassungsbeschwerden häufig gar nicht mehr
zur Entscheidung annahm6, zum andern damit, dass es die
Fachgerichte immer wieder aufforderte, nach Mittel und Wegen
zu suchen, um dem gerügten Verfahrensmangel bereits im Zivil-

prozess selbst abzuhelfen', und dabei auch mit konkreten Vor-
schlägen nicht sparte.
Diese Aufforderungen verhallten nicht ungehört. Sie lösten in
der Praxis eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Versuche aus, dem
Gehörverstoß durch die Zulassung eines nach dem Gesetz an sich
nicht zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfs abzuhelfen9. Die
Folge davon war, dass die Rechtslage sehr unübersichtlich wur-
de10. Für jemand, der nicht ständig mit diesen Dingen befasstwar,
war nicht mehr ersichtlich, was er im Fall eines Gehörverstoßes
unternehmen konnte. Um ja nichts zu versäumen, musste ihm
daher angeraten werden, im Zweifel auch von einem unsicheren
zivilprozessualen Rechtsbehelf und der Verfassungsbeschwerde
nebeneinander Gebrauch zu machen - ein unter rechtsstaatlichen
Gesichtspunkten untragbarer Zustand.
Nach langem Zuwarten nahm sich der Gesetzgeber im Zivil-
prozessreformgesetz vom 27.7. 2001 des Problems schließlich
an und fügte mit Wirkung ab 1. 1.2002 die Gehörsrüge gem.
§ 321 a in die ZPO ein12. Wie als ob es die jahrelange Diskussion
nicht gegeben hätte, ist diese Rüge jedoch auf nicht berufungs-
fähige erstinstanzliche Urteile beschränkt. Sie ersetzt also im
wesentlichen nur die 1977 aufgehobene Nichtigkeitsklage gem.
§ 579 III ZPO a. F. gegen Schiedsurteile, wenn auch mit dem
Unterschied, dass damals eine Rechtsmittelfrist von einem Monat
vorgesehen war, während die Gehörsrüge gem. § 321 a ZPO
innerhalb von zwei Wochen erhoben werden muss. Wegen der
Beschränkung der Rüge auf erstinstanzliche Urteile setzte um-
1 BGBl 1969 I, S.97.
2 BVerfG ZIP 2003, 1102 (1104 ff.) = NJW 2003, 1924 (1925 £); kritisch
dazu VoSSKUHLE, NJW 2003, 2193 (2196 ff.).
3 Art. 1 Nr. 54 und 81 des Gesetzes vom 3. 12. 1976, BGBl 1976 I, S. 3281
(3291).
4 BGBl 1990 I, S. 2847.
5 Dazu SCHUMANN, NJW 1985, 1134.
6 BVerfGE 46, 72; BVerfGE 47, 102; BVerfGE 47, 128; 53, 205; 63, 177; 72,
119; BVerfG NJW 1992, 1155; BVerfG NJW-RR 1999, 137; BVerfG NJW
1999, 1176f.
7 BVerfCF 47, 182 (190 £); 49, 252 (256); BVerfGE 73, 322 (327); BVerfG
NJW 1988, 1773 (1774).
8 Für »Gegenvorstellung« BVerfGE 73, 322 (327 ff.); BVerfGE 49, 252 (256);
für weitere Beschwerde analog § 568 II ZPO a. E BVerfG NJW 1988, 1773
(1774); für Nichtigkeitsklage analog § 579 I Nr. 4 ZPO BVerfG NJW 1992,
496; BVerfG NJW 1998, 745; für Berufung analog § 513 II ZPO a.F.
BVerfGE 60, 96 (98f.); 61, 78 (80); 64, 203 (206); BVerfG NJW 1999,
1176f.
9 Zu erinnern ist hier an die Gewährung einer sonst nicht eröffneten
»außerordentlichen« Erstbeschwerde oder einer weiteren Beschwerde
gegen Beschlüsse analog § 568 II ZPO a. F., an die Zulassung der Berufung
analog § 513 II ZPO a. F. gegen Urteile, die im schriftlichen Verfahren nach
§ 128 II oder III oder § 495 a ZPO ergangen waren, vereinzelt sogar gegen
Urteile im Verfahren mit mündlicher Verhandlung, vgl. MünchKomm-
ZPO-BRAUN, 2. Aufl., § 567 Rdn. 9, § 568 Rdn. 14, § 579 Rdn.21 Fn.69
und 70.
10 VOSSKUHLE, NJW 1995, 1377 (1378ff.).
11 BGBl 2001 1, S. 1887 (1892 E.).
12 Zur Vorgeschichte Vo LL KO M M E R, in: Festschrift für Schumann, 2001,
507f.

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