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2004 Juristische Rundschau 1 (2004)

handle is hein.journals/jrcerdau76 and id is 1 raw text is: Januar Heft 1/2004

Wandel des Prozessrechtsverständnisses - vom »liberalen« zum »sozialen«
Zivilprozess?
Von Wiss. Mitarbeiter Peter Meyer, Bayreuth

1. Einführung
Die Bundesrepublik Deutschland versteht sich als sozialer
Rechtsstaat (Art. 20 Abs.1, 3 GG). Dem Rechtsstaatsprinzip
entnimmt das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtli-
che Gewährleistung eines rechtsstaatlichen, effektiven und fairen
Verfahrens'. Gleichzeitig verpflichtet der Sozialstaatsgedanke den
Staat, innerhalb eines gewissen Gestaltungsspielraumes eine ge-
rechte soziale Ordnung zu schaffen. Diese Prinzipien gelten auch
für das Zivilverfahrensrecht.
Nach vorherrschender Auffassung bezweckt der Zivilprozess
primär den Individualrechtsschutz, also die Durchsetzung pri-
vater subjektiver Rechte. Gleichzeitig dient der Prozess als Institu-
tion dem Rechtsfrieden sowie der Durchsetzung und Bewährung
des objektiven Rechts2. Wegen der sozialen Verpflichtung des
Staates muss das Prozessrecht außerdem darauf bedacht sein,
einen sozial schwächeren Prozessbeteiligten nicht zu benachtei-
ligen3.
Das Zivilverfahrensrecht war im Laufe der Jahre immer wieder
Reformen unterworfen. Der Begriff des »sozialen Zivilprozesses«
diente dabei oft als Schlagwort, um Neuerungen zu rechtferti-
gen4.
Ausgehend von den historischen Grundlagen soll gezeigt wer-
den, was unter jenem Begriff zu verstehen ist. Anschließend soll
untersucht werden, ob tatsächlich ein Wandel im Verständnis des
Prozessrechts hin zu einem »sozialen« Zivilverfahrensrecht fest-
zustellen ist.
II. Historische Entwicklung
1. Die CPO von 1877
Die CPO von 1877 war geprägt durch eine liberale Prozessauffas-
sung nach französischem Vorbild. Danach war der Zivilprozess
eine rein private Angelegenheit der Parteien ohne weiteres In-
teresse für die Allgemeinheit. Die Prozessführung - insbesondere
die Aufklärung des Sachverhalts, Zustellung von Schriftsätzen
und Ladung zur mündlichen Verhandlung - war ihnen über-
lassen. Da die Parteien über das Prozessziel bestimmen konnten,
hatten sie auch das Recht, über die Mittel zur Erreichung ihres
angestrebten Rechtsschutzes zu entscheiden.
Der Richter hatte dies zu akzeptieren, ihm war eine eher passive
Rolle zugedacht. Hintergrund war der Gedanke, die richterliche
Macht zu begrenzen. Der Bürger, der in einem Prozess der
Staatsgewalt gegenübertritt, sollte durch das Prozessrecht vor
richterlicher Willkür geschützt werden.
2. Die Kritik von Menger
Eine solche liberale Prozessauffassung gab alsbald Anlass zur
kritischen Betrachtung. Anton Menger stellte in seiner als Kritik
am Entwurf des BGB gedachten Schrift »Das Recht und die
besitzlosen Volksklassen«6 fest, dass gerade die besitzlosen Volks-
klassen, die ohnehin aufgrund der bestehenden Unterschiede

hinsichtlich Bildungsgrad und Vermögen zurückgesetzt seien,
auf dem Gebiet der Rechtsverfolgung noch weitgehendere Nach-
teile erleiden7. Um diese missliche Situation zu beenden, forderte
Menger, dass sich der Gesetzgeber bei jeder Rechtsregel und bei
jedem Rechtsinstitut die Frage vorlegen muss, welche Folgen sich
bei deren Anwendung für die besitzlosen Volksklassen ergeben.
Deswegen sollte jeder Zivilrichter dazu verpflichtet werden, jeden
Staatsbürger, insbesondere aber den Armen, unentgeltlich über
das geltende Recht zu belehren und ihn bei der Sicherung der
Privatrechte zu unterstützen. Der Richter sollte also im Prozess
eine aktive Rolle übernehmen.
3. Die soziale Prozessauffassung Franz Kleins
Begründer einer »sozialen Prozessauffassung« war der Schöpfer
der österreichischen ZPO von 1895, Franz Klein. Auch er kam zu
der Überzeugung, dass nicht alle Bürger die gleiche Chance
hatten, ein ihnen zustehendes Recht durchzusetzen. Gerade
zur Zeit der k.u.k.-Monarchie lebten unzählige Volksgruppen
mit höchst unterschiedlichem Bildungsniveau und wirtschaft-
licher Potenz in einem riesigen Staatsgebilde, in dem das gleiche
Prozessrecht galt.
Für Klein stand als Prozessziel nicht allein das Recht der
Parteien, sondern vor allem das Interesse der Allgemeinheit im
Vordergrund. Der Prozess sei eine »unentbehrliche staatliche
Wohlfahrtseinrichtung«, ein »Glied sozialer Hilfe«9. Die Herr-
schaft der Parteien sollte daher abgeschwächt und dem Richter als
Repräsentanten der Allgemeinheit ein stärkerer Einfluss auf das
Verfahren eingeräumt werden. Damit wurde aber nicht nur der
Schutz der sozial Schwachen bezweckt. Auch für die neu entste-
hende Industrie und den Handel war es wichtig, dass Forde-
rungen innerhalb eines angemessenen Zeitraumes und mit zu-
mutbarem Aufwand durchsetzbar waren. Unabdingbare Voraus-
setzung dafür war eben auch eine effiziente und funktionsfähige
Zivilrechtspflege10. Ziel war also eine Zurückdrängung der Par-
1 BVerfGE 49, 148 (163 f.); 55, 72 (93 f.); 69, 126 (140); st. Rspr.
2 STEIN/JONAs/BREHM, ZPO, 22.Aufl. (2003), vor § 1 Rdn.5ff.; JAU-
E R N I G, Zivilprozessrecht, 28. Aufl. (2003), § 11, 11; ST Ü R N E R, FS Baum-
gärtel (1990), S. 546.
3 STEIN/JoNAs/BREHM     (o. Fn.2), vor § 1 Rdn.298; HABSCHEID,
Festschrift Ekelöf (1972), S. 283 (293).
4 REISCHL, ZZP 116 (2003), 81 (96).
5 S. dazu ausführlich BREH M, Die Bindung des Richters an den Partei-
vortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung (1982), S.10ff.;
WASSERMANN, Der soziale Zivilprozess (1978), S.32ff.; BETTER-
MANN, ZZP91 (1978), 365ff.; GAUL, AcP 168 (1968), 27 (47); STÜR-
NER, FS Schumann (2001), S.491 (501).
6 Die 1. Aufl. erschien 1890; die Nachweise beziehen sich alle auf die 4. Aufl.
(1908, Nachdruck 1968).
7 MENGER (o. Fn.6), S.19.
8 MENGER (o. Fn.6), S.34f.
9    EIN, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse, 2. Aufl. (1958), S.25 =
Reden, Vorträge, Aufsätze, BriefeI (1927), S. 117 (134).
10 KLEIN (o. Fn. 9), S.28. Siehe dazu auch die Darstellungenvon SPRUNG,

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